Frage wegen Dramatisierung und Radikalisierung

From: Manuela Reiter
Date: 01.11.2007 19:49
Subject: Frage wegen Dramatisierung und Radikalisierung
To: „Manfred A. Reiter“

Lieber Papa,

ich weiß nicht so genau, aber vielleicht habe ich ja in der Schule nicht aufgepasst. Aber ich glaube schon, denn sonst hätte ich in meinem letzen Zeugnis keinen Notendurchschnitt von 1,7. Ich dachte man ist radikal, wenn man etwas wirklich richtig abgrundtief Böses tut, wie z.B. Briefbomben an Firmen und/oder fiese Kapitalisten schreiben oder Türme in die Luft sprengen, wobei unschuldige Leute sterben.

Wie ich höre, musst du vielleicht ins Gefängnis, weil ein Polizist gesagt hat, dass du es schuld bist, dass sich friedliche Menschen irgendwo getroffen haben. Aber du oder die Leute von der IGAB, ihr habt doch noch nie eine Briefbombe an Leute von der DSK geschrieben oder einen Turm, wie beispielsweise einen Förderturm in die Luft gesprengt, oder? Also kann auch niemand sagen, dass ihr radikal seid. Weil dann hätte diese Person vielleicht selber nicht in der Schule aufgepasst und wüsste gar nicht was sie sagt. Und wie mein Bruder und ich schon früh von dir gelernt haben: Wenn man keine Ahnung hat: Einfach mal Fresse halten.

Mit der Dramatisierung hat die Person auch nicht Recht. Ein Drama ist ein Theaterstück, dem ein geschriebener Text zugrunde liegt (im Gegensatz zum textlosen Improvisationstheater). Ich war lange genug in der Theater-AG und damit kenne ich mich aus. Die Person hat vielleicht Demonstration gemeint? Demonstrieren, das darf man doch – auch in Deutschland, oder? Und einer Demonstration sollten Politiker nicht entgegenwirken, denn das ist nicht richtig. Und Politiker dazu aufzufordern Bürger vom Demonstrieren abzuhalten, das ist schon fast ein bißchen verfassungsfeindlich, oder?

Aber vielleicht hat die Person sich wirklich vertan, wobei ich auch hier sagen würde: Wenn man keine Ahnung hat: Besser mal Fresse halten.

Vielleicht hat die Person aber auch Tragödie gemeint. „Tragisch“ heißt nämlich, „dass jemand […] ?schuldlos schuldig“ wird. Das kann ich verstehen, das ist dann so, wie du es bei der Demo in Saarwellingen gesagt hast, dass aus Bergbaubetroffenen Bergbaugegner werden. Das ist schade. Dass aus normalen Leuten, die irgendwo ihre Meinung kundtun, die sich gegen Unrecht wehren, Straftäter werden. Das ist auch schade. Mehr noch: das ist die eigentliche Tragödie. Schuldlos schuldig werden. Wenn überhaupt, dann betreibst du eine Tragödisierung.

Weißt du, was ich persönlich radikal und dramatisch finde (vielleicht in dem falschen und umgangssprachlichen Sinne, in dem die Person es irrtümlich verwendet hat)? Dass du und Mama so viele Jahre lang arbeiten gegangen seid, um ein Haus für uns bauen zu können und dass dieses Haus kaputt gehen wird wenn die Primsmulde kommt. Ich weiß auch nicht wo ihr dann wohnen sollt. Und ich will auch nicht, dass du mal später so traurig bist wie die Oma, die immer traurig ist, dass sie uns nichts schenken kann, weil sie nur so eine kleine Rente hat. Aber wenn unser Haus kaputt geht, dann ist das vielleicht mal so. Und davor habe ich Angst. Unser Haus wird zerstört. DAS IST RADIKAL. Es wird mutwillig kaputt gemacht. Es wird in Kauf genommen, dass du und Mama, und wir Kinder auch, traurig werden oder sogar krank, wenn wir nicht mehr schlafen können, weil unter dem Haus in der Nacht die Maschinen dröhnen oder die Erde bebt. Unser Haus wird zwar nicht gesprengt, kaputt ist kaputt, also ist erdbebenverursachen und sprengen vom Ergebnis her dasselbe. Dass wir auch keinen Platz mehr haben werden zum Wohnen, ein Zuhause, wo wir mit unseren Kindern mal hinkommen können das ist mehr als dramatisch. Das ist grausam. Man fühlt sich so, als ob man aus seiner Heimat vertrieben wird. So wie sich vielleicht manche von den Leuten fühlen, die ihre Häuser schon verlassen mussten, weil sie wegen der Schäden durch die bergbaubedingten Erdbeben unbewohnbar geworden sind.

Deshalb, lieber Papa, demonstriere und tragödisiere bitte weiter. Radikalisieren tust du nicht, das erledigen ganz andere. Ich bin stolz auf dich, wenn du noch andere findest, die dir beim Demonstrieren helfen. Und ich bringe dir auch einen Kuchen ins Gefängnis mit, wenn ich dich da besuchen komme.

Ich habe dich sehr lieb.

Dein Manukind